Wer sich heute mit Blick auf die Jugend mit Werten befaßt, beginnt gerne mit einem Lamento: „So schlecht war die Jugend noch nie!“ Diese Melodie relativiert sich aber in der historischen Perspektive; es ist dies nämlich eine Klage, die sich bereits auf einem babylonischen Tonziegel vor 5000 Jahren fand. Dort heißt es: „Diese Jugend ist von Grund aus verdorben, böse, gottlos und faul. Sie wird nie mehr so werden wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.“ Ein Ur-Konflikt der Menschheit!

Und „die“ Jugend „heute“ – Gibt es sie überhaupt?

Das muß man vorab fragen. Denn wenn wir uns Gedanken machen wollen, was wir ihr ideell mitgeben sollen, müssen wir uns erst einmal Gedanken über den Zustand dieser Jugend machen.

Nein, «die» Jugend gibt es nicht gibt. Medien und Politik lieben zwar markante Begriffe für die Beschreibung von Sachverhalten. Parallel dazu sind Soziologie und Meinungsforschung gerne bereit, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Das gilt auch für die Etikettierung von «Jugend».

Allerdings war und ist Jugend zu allen Zeiten und in allen Ländern der Welt etwas ziemlich Heterogenes. Die Globalisierung hat daran wenig geändert, außer daß gewisse Entwicklungen den gesamten Erdball bzw. zumindest die freie Welt nun schneller als zuvor erfassen und gewisse Vereinheitlichungen rascher erfolgen.

Wenn seit mehr als einem halben Jahrhundert Jugendetiketten die Runde um den Globus oder quer durch Deutschland machen, so mögen dies aparte semantische Spielereien sein und schöne Aufmacher für Titelseiten von Magazinen hergeben. Mehr als unterschwellige Trends, die quer durch einen Teil der Jugend gehen und die sich zu ein und derselben Zeit sogar noch widersprechen, vermögen sie aber nicht zu signalisieren.

Jugend gibt es eben nur grammatisch im Singular, realiter nur im Pluaral. Realiter sind es viele Ausprägungen von Jugend. Deshalb ist es relativ unerheblich, wie man eine Jugend zu einer bestimmten Zeit benennt. Zu vielfältig und zu kurzlebig sind die Bezeichnungen, vor allem aber charakterisieren sie immer nur eine Minderheit von Jugendlichen, die aufgrund einer gewissen Attitüde medial als besonders trendy gilt – oder in die die Erwachsenenwelt zur eigenen Entlastung und Rechtfertigung gerne etwas hineinprojiziert.

Gäbe es die Jugend bestimmter Etiketten wirklich, so müßte man allein aufgrund der Zahl der Etiketten davon ausgehen, daß wir jedes Jahr eine andere Jugend haben. Man denke etwa an «Typenbezeichnungen» wie die folgenden:

  • die skeptische Generation (1957 «erfunden»),
  • die übertriebene Generation (1967),
  • die überflüssige Generation (1979),
  • die weinerliche Generation (1983),
  • die Null-Bock-Generation und
  • die No-Future-Generation der 1980er Jahre,
  • die Generation Golf,
  • die Generation X der 1990er-Jahre,
  • die unsichtbare, pragmatische Generation Mitte der 1990er Jahre,
  • die Generation Y um das Jahr 2000 («Millennials»),
  • die Generation Beauty,
  • die Generation Benedikt,
  • die Generation Doof,
  • die Generation Geil,
  • die Generation Maybe,
  • die Generation Null Zoff & Voll Busy,
  • die Generation Porno,
  • die Generation Punk,
  • die Generation Spießer,
  • die verspielte Generation,
  • die Generation Jammerlappen.

In der Konsequenz müssten wir Wertebildung fast jedes Jahr neu denken!

Bezeichnend ist, daß sich zuletzt Jugendetiketten eingebürgert haben, die vor allem auf den medialen Konsum Heranwachsender abheben: die Generation @ (Klammeraffe), die Generation Chips, die Generation Flatrate, die Generation Net, die Generationen WLAN, LAN, Facebook, Twitter, iPad, iPod, WOW (World oft Warcraft) usw. Wahrscheinlich haben diese Bezeichnungen aber eine ähnlich kurze Halbwertszeit wie die Technik der jeweils von diesen Gruppen genutzten Medien. Und es kamen bzw. kommen noch hinzu: die Yuppies, die Netten, die Hip-Hopper, die Raver, die Nerds, die langweiligen Streber, die jungen Milden und die Stinos (die Stinknormalen).

Und als i-Tüpfelchen die No-Label-Generation, also eine Generation, wie es sie immer gab: heterogen, sich jeder Etikettierung verweigernd und nicht ganz ohne Verwandtschaft wohl zur Patchworkjugend.

Jedenfalls darf man für heute festhalten: Die „vergammelten“ und „verkorksten“ Jungen gibt es nicht, das zeigen die Alltagserfahrungen und alle jüngeren Jugendstudien. Im Gegenteil, Millionen junger Leute gehen selbstverständlich ihren Pflichten nach. Sie sind familiär, schulisch, beruflich, kirchlich, sportlich, sozial und ökologisch engagiert. Notstandsbilder trügen: Wenn hundert Jugendliche randalieren, dann steht es in den Zeitungen. Von den Millionen, die ihren Eltern und Lehrern Freude machen, schreibt und sendet leider kaum jemand, die „Sensation des Positiven“ bleibt uns vorenthalten.

Ein zufriedenstellender Blick auf das Ganze darf freilich den Blick nicht verstellen für Negativentwicklungen im Jugendbereich. So sind in wachsendem Maße zu beobachten: Egoismus, Bindungslosigkeit, Süchte, Gewaltbereitschaft, Verdruß an Staat und Politik.

Das ist ein besorgniserregendes Tableau, das gleichwohl ein Umfeld hat. Sorgen macht vor allem der schleichende Funktionsverlust der Familien und ihrer Vorbildfunktion. Dort wurde Erziehung teilweise zum vernachlässigten Geschäft. Die Ursachen dafür sind vielschichtig:

  • jährlich weit über 100.000 „Scheidungswaisen“ in Deutschland;
  • eine fortschreitende Delegation von Erziehung „außer Haus“, an Schule und Gesellschaft;
  • die zunehmende Inanspruchnahme unheimlicher Miterzieher als „Babysitter“.

Sorgen macht so manche gesellschaftliche Entwicklung, für die die Erwachsenen die Verantwortung tragen:

  • ein medial und bisweilen gerichtlich gepflegter Vorrang hedonistischer Werte („Grundrechtssubjektivismus“);
  • eine fortschreitende Erosion des Unrechtsbewußtseins und der Rechtstreue;
  • eine endlose Verrohung der Medienlandschaft, die „Hackfleischfilme“ – höchstrichterlich genehmigt – unter dem Mäntelchen des informationellen Selbstbestimmungsrechts und der Kunstfreiheit verkaufen darf;
  • ein sog. Sofortismus“ und ein Jugendwahn, der immer alles sofort haben will.

Kernproblem scheint vor allem ein als absolut gesetzter Pluralismus zu sein, der im Zuge gleicher Gültigkeit aller Bezüge zur Gleichgültigkeit, zur Beliebigkeit, zum „anything goes“ verkommt und gezielt dekonstruktivistisch sein will. Siehe den Genderismus, der in Auflehnung gegen die sog. Zwangheterogenität sogar die vom Schöpfer vorgesehene Zweigeschlechtlichkeit des Menschen de-konstruieren und sich selbst an die Stelle des Schöpfers stellen will!

Reif und erwachsen ist das nicht, vermutlich weil die heutige Welt der Erwachsenen oft gar keine Welt der Erwachsenen, sondern allenfalls eine Welt der Postadoleszenten ist. Selbst der „Spiegel“ – im Zertrümmern von Werten und Tabus sonst ja nicht kleinlich – jammerte schon 1999 in einem Sonderheft im Titel über das „Volk ohne Moral“.

Angesichts solcher Umstände hat Eduard Spranger heute mehr denn je recht, wenn er in den 60er Jahren sagt: Die hauptsächliche Ursache negativer Prägungen unserer Kinder ist die innere Unwahrhaftigkeit (Verlogenheit?) der Gesellschaft, da erziehen zu wollen, wo echte Erziehungsresultate eigentlich nicht gewollt werden.

Das hat schulpolitische Vorläufer. In manchen deutschen Ländern war Wertorientierung ab 1968 sogar regierungsamtlich nicht erwünscht. Im damals SPD-regierten Hessen hieß es noch in den 1990er Jahren in einem Papier des Kultusministeriums mit dem Titel „Schule im Wandel“: „Die kulturelle Vielfalt und die soziale Differenzierung der Gesellschaft verbieten es (sic!), bestimmte Moralvorstellungen in Schulen zu etablieren oder verbindlich zu machen.“ Das hat Generationen von Schülern und auch Lehrern geprägt.

Die Schulen kommen gegen solchermaßen gezielte Desorientierung nicht an. Vor allem reichen die Anstrengungen der Schule nicht an die vielfältigen familiären, gesellschaftlichen und medialen Ursachen defizitärer Entwicklungen heran. Insofern ist es utopisch und ein bequemes Ablenkungsmanöver zu glauben, institutionalisierte Bildung könnte gesellschaftliche Wertereparaturwerkstatt sein. Auch die Inflation an schulischen Komposita-Erziehungen führt nicht weiter – diese ständig neu erfundenen Bindestrich- und Segment-Pädagogiken von Medien- und Konsumerziehung über Freizeit- und Gesundheitserziehung bis hin zu Umwelt-, Friedens- Sexualerziehung usw.

All diese Forderungen sind nicht Ausdruck wachen pädagogischen Bewußtseins, sondern diese Atomisierung des Erzieherischen ist Symptom eines Verlustes an Orientierung überhaupt.

Was wir vor allem brauchen, ist eine Stärkung der elterlichen Erziehung. Die Schule kann hier gemäß Subsidiaritätsprinzip nur unterstützend tätig sein.

Vor allem wäre zu wünschen, die Gesellschaft würde mit dem gleichen Engagement wie die anderen Bürger- und Menschenrechte auch die Erziehungsrechte und -pflichten (vgl. GG Artikel 6) sowie eine Erziehung im Interesse des Kindeswohls (vgl. BGB 1627) einfordern. Gerade für die Ansprüche des Artikels 6 des Grundgesetzes, demzufolge Pflege und Erziehung der Kinder „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ sind, ist trotz wachsender Freizeit und abnehmender Kinderzahl oft kein Platz in der Familie.

Überfällig wäre vor allem ein gesellschaftlicher Konsens in Fragen der Erziehungsziele und damit ein Konsens an Werten. Dabei muß klar sein, daß Wertevermittlung im kleinen beginnt. Das gilt auch für eines der wichtigsten Erziehungsziele, für die Achtung der Würde des Menschen (GG Art. 1)!

Diese Achtung hat ihren Anfang bei entsprechenden Würdeformen im Umgang. Würdeloses scheint sich indes einzuschleichen – in Parlamenten, in Talkshows und in Schulen. Wir sehen hier zu oft weg. Deshalb kann die Alternative nur heißen:

  • Dulden wir keine entwürdigenden Schimpfnamen und obszöne Gesten!
  • Vermitteln wir, daß die Achtung der Würde des Menschen auch Achtung der Würde des Reinigungspersonals bedeutet und mit der Vermeidung von weggeworfenem Abfall zu tun hat!
  • Und machen wir klar, daß das Auflehnen gegen Würdeloses eine Frage der Zivilcourage ist!

Ein Werte- und Erziehungskonsens ist auch deshalb wieder vonnöten, weil er durch eine Politisierung (siehe „emanzipatorische Erziehung“) und Pseudo-Psychologisierung (siehe „Schwarze Pädagogik“, „Patient Familie“) der Erziehung brüchig geworden ist. Erziehung ist nicht Vergewaltigung oder Herrschaftsausübung, Erziehung kann auch nicht in Gefälligkeitspädagogik bestehen. Erziehen heißt: wachsenlassen und befreien sowie zugleich führen und binden (Theodor Litt). Jede einseitige Betonung eines dieser beiden Pole ist falsch. Allerdings wurde zuletzt wohl das Gewährenlassen überbetont.

Deshalb brauchen wir vermehrt eine Erziehung durch ein In-Anspruch-Nehmen junger Menschen (Eduard Spranger), auch hinsichtlich Leistungsbereitschaft. Zu wünschen ist zudem eine Erziehung zur Toleranz, die darin besteht, daß Erwachsene und Erzieher nicht alles tolerieren.

Und eines braucht Erziehung besonders: ein Ende der Diskriminierung der Werte Fleiß, Zuverlässigkeit, Ordnung, Pünktlichkeit, Verzicht, Treue und Leistung sowie eine kritische Auseinandersetzung mit „Werten“ wie Autonomie, Ungebundenheit, und Ausleben.

Auf einen Wert, eine Haltung will ich besonders eingehen: auf (Selbst-) Disziplin! Der einst fleißige, gewissenhafte, disziplinierte deutsche Michel scheint mehr und mehr Vergangenheit zu sein. Das Verhältnis von Ernst und Spaß, von Arbeit und Freizeit hat sich bei ihm drastisch gewandelt. Hatten wir noch vor fünfzig Jahren die 48/50-Stunden-Woche, haben wir jetzt die 35/38-Stunden-Woche. Die Wochen-Arbeitszeit hat sich in dieser Zeit also um rund 30 Prozent reduziert. Zuletzt betrug die Jahresarbeitszeit eines Deutschen 1700 Stunden, die eines US-Amerikaners 1900 Stunden und die eines Japaners 2100 Stunden. Daraus ist nicht ganz zu Unrecht die böse Redensart entstanden: „Die Japaner arbeiten mit unlauteren Mitteln, sie arbeiten während der Arbeitszeit.“ Ein anderes böses Wort sagt: Die Deutschen – das sind in der Freizeit Hedonisten, in der Arbeitszeit Spartaner.

Der Soziologe Helmut Klages hat auch in diesem Zusammenhang in den 1980er Jahren eine Theorie entwickelt, der zufolge ab Ende der 1960er Jahre (Stichwort: Achtundsechziger!) Pflicht- und Akzeptanzwerte (z.B.  Disziplin, Pflichterfüllung, Treue) durch Selbstentfaltungswerte (z.B. Emanzipation, Individualismus, Autonomie) zurückgedrängt wurden. Die Ergebnisse dieses Wandels sind heute vielerorts zu besichtigen. Klages konstatiert zum Beispiel

  • einen radikaler auftretenden Anspruch auf eine individuelle, nicht rechenschaftspflichtige Lebensgestaltung;
  • ein Staatsverständnis, das den Staat vorwiegend als Dienstleistungseinrichtung versteht,
  • ferner einen zunehmenden Verfall von Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft.

All dies ist eingetroffen. Ähnliches diagnostizierte die große Dame der Meinungsforschung, Elisabeth Noelle-Neumann (+2010). Sie sorgte sich um eine Aushöhlung der Fundamente, auf die eine pluralistische Gesellschaft zwingend angewiesen ist, insbesondere auf Tugenden wie Disziplin und Pflichterfüllung.

Selbstsucht statt Selbstzucht ist offenbar angesagt. Allein die Sprache ist hier verräterisch. Angesagt sind nämlich heute fast nur noch: Selbstbestimmung, Selbstentfaltung, Selbstvergewisserung, Selbstverwirklichung, Selbstzentrierung …

Nicht angesagt sind leider: Selbstbeherrschung, Selbstdisziplin, Selbstironie, Selbstkritik, Selbstlosigkeit. Und daß aus lauter Selbst auch Selbstbetrug, Selbstgefälligkeit, Selbstherrlichkeit, Selbstsucht, Selbstüberschätzung werden können, darüber ist bedauerlicherweise kaum die Rede. Autismus scheint angesagt.

Ulrich Beck, der am Neujahrstag 2015 verstorbene Bamberger Soziologe, beschreibt diese Vergötterung bzw. Vergötzung des Selbst deshalb nicht ganz zu Unrecht wie folgt: „Sie reisen nach dem Tourismuskatalog in alle Winkel der Erde. Sie zerbrechen die besten Ehen ….. Sie engagieren sich. Sie wechseln von einer Therapiegruppe zur anderen. ….. Besessen von dem Ziel der Selbsterfüllung, reißen sie sich selbst aus der Erde heraus, um nachzusehen, ob ihre Wurzeln auch wirklich gesund sind.“

Ein solcher Hyper-Individualismus hinterläßt indes Spuren der Desorientierung – bei Jung und bei Alt.

Aber: Alles zu dürfen und nichts zu sollen, das funktioniert nirgends, weder in der Gesellschaft noch in der Erziehung.

Wer Leistung, Anstrengung und Disziplin aber zu Mißgunst-Vokabeln macht, versündigt sich an der Zukunft unserer Kinder und unserer Gesellschaft. Freilich ist im Zusammenhang mit Schule immer noch und in übler Weise die Rede von „Leistungsstreß“, „Leistungsdruck“, „Leistungsterror“. Den Begriff „Disziplin“ findet man ohnehin seit Jahrzehnten in keinem gängigen pädagogischen Wörterbuch mehr. Die früher disziplinlos bezeichneten Schüler wurden verbal zu verhaltensauffälligen oder gar verhaltensoriginellen Schülern befördert.

Und wer die Prinzipien Leistung und Arbeit bereits in der Schule untergräbt, setzt revolutionärste demokratische Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht Kriterien zur Positionierung eines Menschen in der Gesellschaft. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle die Kriterien Leistung, Anstrengung und (Selbst-)Disziplin vor Erfolg und Aufstieg gesetzt. Das ist die große Chance zur Emanzipation für jeden einzelnen. Ganz zu schweigen davon, daß der Sozialstaat nur dann funktioniert, wenn er von der Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft sowie von der (Selbst-)Disziplin von Millionen von Menschen getragen wird. 

Vor diesem Hintergrund schaue man sich die um sich greifende, aberwitzige Vorstellung an, daß Schule vor allem Spaß machen müsse; oder man nehme die Inflation an immer besseren, ja sehr guten Schulnoten zur Kenntnis, die freilich rein gar nichts mit mehr Fleiß der Schüler zu tun hat, sondern mit einer Absenkung des Leistungsniveaus.

Letzteres ist zuhauf geschehen:

  • Der mutter- und der fremdsprachliche Wortschatz wird drastisch gekürzt;
  • ein Auswendiglernen von Gedichten findet fast nicht mehr statt;
  • das Einprägen von historischen oder geographischen Namen und Daten gilt als vorgestrig;
  • Grundschüler dürfen gegen jede Orthographieregel „phonetisch“ schreiben;
  • Deutschprüfungen bestehen im Ankreuzen von Multiple-Choice-Aufgaben oder im Ausfüllen von Lückentexten.

Aber: Die um sich greifende Wohlfühl-, Gute-Laune-, Spaß- und Gefälligkeitspädagogik schadet unseren Kindern. Wir müssen Kindern wieder mehr zutrauen und auch mehr zumuten.

Wir brauchen uns sonst nicht zu wundern, wenn unsere jungen Leute keine 40-Stunden-Schul-und-Hausaufgabenwoche wollen.

Selbst ein Sigmund Freud, der bekanntermaßen vieles auf das Luststreben des Menschen zurückführte, war überzeugt: Leistung und Erfolg, ja das Erleben von Glück, setzen Bedürfnis- und Triebaufschub voraus. Man könnte auch sagen: Setzen Selbstdisziplin voraus.

Dem entgegen ist „Disziplin“ ein Un-Wort geworden. Leider! Disziplin wird assoziiert mit Kommandopädagogik und Kadavergehorsam, gar mit faschistoider Einstellung. Daß solche Assoziationen salonfähig wurden und Spuren hinterlassen, bewies Oskar Lafontaine. Als Helmut Schmidt 1982 eine Besinnung auf Sekundartugenden wie Fleiß, Treue, Gehorsam, Zuverlässigkeit, Pflichtbewußtsein und Disziplin einforderte, mußte er sich von Lafontaine entgegenhalten lassen: „Damit kann man auch ein KZ betreiben.“ So kann man Grundlagen eines freien, rechtsstaatlichen, wohlhabenden Gemeinwesens auch unterminieren!

Dabei ist die Bedeutung von Leistung, Fleiß und Disziplin nicht nur eine Frage der politischen Einstellung, auch keine Glaubensfrage. Wissenschaft und Forschung haben nachgewiesen, daß gerade (Selbst-)Disziplin Basis für ein erfolgreiches Leben und für Lebenszufriedenheit ist.

Die sog. Dunedin-Studie beispielsweise, eine weltweit anerkannte, seit 1973 ununterbrochen laufende Längsschnittstudie in der neuseeländischen Stadt Dunedin, hat bestätigt, daß eine bereits in der Kindheit vorhandene Fähigkeit zur Selbstkontrolle sehr positiven Einfluß hat auf das spätere Leben, etwa auf Gesundheit, beruflichen Erfolg, materiellen Wohlstand und Zufriedenheit.

Ähnlich fielen die Ergebnisse der ebenfalls weltweit bekannten Marshmallow-Studie aus. Hier hat der aus Österreich stammende US-Psychologe Walter Mischel vierjährige Kinder in den Jahren um 1970 vor die Alternative gestellt, auf der Stelle ein Marshmallow, eine Art Zuckerwattegebäck, zu bekommen oder nach einem Warten von rund 15 Minuten zwei Stück davon. Ergebnis nach Jahrzehnten: Je länger die Kinder gewartet hatten, also Geduld und Selbstdisziplin praktiziert hatten, desto erfolgreicher waren sie als Erwachsene im beruflichen, schulischen und sozialen Bereich, und desto leichter wurden sie mit Belastungen und Frustrationen fertig.

Auch von daher wäre eine Renaissance des Prinzips (Selbst-)Disziplin notwendig. Eltern, Erzieher, Lehrer, Bildungspolitiker und Bildungsforscher sollten sich im Interesse der heranwachsenden Generation darauf besinnen. Eine nur auf „Instant-Genuß“ und „Events“ ausgerichtete Wohlstandsgesellschaft wird keinen Bestand haben.

Noch eines: Viele Erziehende wollen heutzutage Partner der Kinder sein. Dabei meine ich noch nicht einmal das Phänomen, daß einzelne Elternteile ihr Kind als Ersatzpartner sehen. Nein, damit meine ich das Phänomen, daß manche Eltern glauben, bereits Vorschulkinder müsse man so behandeln, als wären sie auf einer Augenhöhe mit den Erwachsenen.

Kinder sind mit einem solchen Partnersein aber überfordert. Kinder brauchen vielmehr positive Autoritäten und authentische Vorbilder.

Sind die Alten indes keine positiven Autoritäten und Vorbilder, so müssen sie sich eines Tages trotzdem fragen lassen, was sie dazu beitragen, wenn Jugend „verkorkst“ ist. Die Jugend kann nicht „besser“ sein als ihre Alten. Die Jungen sind immer Spiegelbild ihrer Alten, selbst wenn sie das gerade in der Pubertät nicht sein wollen.

Vorbild zu sein heißt u.a.: Ihr da, Ihr aus der Erwachsenengeneration, tragt Euren Zuwachs an Jahren und Erfahrung mit Würde! Zwar gehört es zu unseren uralten Sehnsüchten, ewig jung zu sein. Das Gemälde „Jungbrunnen“ von Lucas Cranach dem Älteren aus dem Jahr 1546 ist bildhafter Ausdruck dieser Sehnsucht: Links steigen dort die Alten und Kranken in den Brunnen, rechts steigen die Jungen und Knackigen heraus.

Aber: Die auf knackig Gestylten, die Berufsjugendlichen – das sind keine Erwachsenen. Mit solchen Erwachsenen machen wir aus Kindern keine Erwachsenen. Vielmehr brauchen wir ausgewachsene Vorbilder.

Das meine ich mit Vorbild. Sehr wohl auch im Sinne der lat. Sentenz: Verba docent, exempla trahunt! (Worte belehren, Vorbilder reißen mit!)

Vorbild sollten die Älteren auch darin sein, daß sie auf jeden Perfektionismus und auf jeden Machbarkeitswahn verzichten. Auch das sollten die Älteren den Jungen mitgeben,

Was wir ferner brauchen, ist eine Rückbesinnung auf das, was unsere Landesverfassungen als Erziehungsziele vorgeben:

  • eine Erziehung zur Verantwortung,
  • zur Wahrhaftigkeit,
  • zur Brüderlichkeit,
  • zur Duldsamkeit und
  • zur Selbstbeherrschung.

Bei solchen Zielen geht es um die Existenz des demokratischen Rechtsstaates. Gesetzesgehorsam ist eine republikanische Tugend (im Sinne von „res publica“). Ohne diese Tugend kann ein Rechtsstaat nicht existieren.

Es wäre Zeit, über eine Rehabilitierung dieser Tugenden insgesamt zu sprechen. Diese Tugenden sind nicht Ausweis des Verklemmten, sondern unerläßliche Voraussetzung für jedes Zusammenleben – auch und gerade in sog. pluralistischen Gesellschaften.

Aus aktuellem Anlaß füge ich hinzu: Die Vermittlung dieser Werte und Prinzipien ist auch für eine erfolgreiche Integrationsarbeit mit Flüchtlingen und Migranten notwendig.

Dazu hat sich der Präsident des päpstlichen Migrantenrats Antonio Maria Veglio geäußert: “Flüchtlinge haben aus der Sicht des Vatikan die Pflicht, sich in ihren Aufnahmegesellschaften zu integrieren. Die Pflicht meine vor allem das Erlernen der Sprache und den Respekt vor der Kultur des neuen Landes…..“

Die CSU will Zuwanderer künftig in der bayerischen Verfassung zur Achtung der deutschen ‚Leitkultur’ verpflichten. Ich habe viel Verständnis dafür, wie ich es überhaupt bedauere, dass die im Oktober 2000 entstandene und damals von Friedrich Merz initiierte Debatte um Leitkultur versandete bzw. aus Gründen er „politischen Korrektheit“ eingestampft wurde.

Insofern finde ich es gut, daß immerhin der Vorsitzende der CSU-Landtagsfraktion Thomas Kreuzer fordert: „Integration muß eine Richtung haben: Wir wollen keine Parallelgesellschaften, keine Multi-Kulti-Gesellschaften, sondern wir wollen einen ganz klaren Maßstab, was wir bei der Integration erwarten: Wir denken hierbei an die Leitkultur“. (Augsburger Allgemeine Zeitung 19.2.2016)

Das ist eine klare Absage

  • an religiösen Fundamentalismus,
  • an – wie auch immer begründete – Intoleranz,
  • an ein Menschen- und im besonderen ein Frauenbild, das dem Grundgesetz diametral entgegen steht.

Wir sind das unserer Jugend und unserer eigenen Selbstachtung schuldig.

Schließlich müssen wir – gegen den Zeitgeist – sprechen über unser Bild vom Menschen. Das ist wichtiger als ein Bildungsoperationalismus, ein Utilitarismus in Sachen Bildung, der meint, Bildung sei das, was PISA misst und was OECD-Rankingtabellen auflisten.

Nein, wir müssen Bildung als Wertebildung verstehen. Dazu gehört, daß wir nachdenken über das Wechselspiel eines mehrfachen Dualismus

  • von Freiheit und Gleichheit,
  • Freiheit und Verantwortung (was mit Gewissen zu tun hat) sowie
  • Rechten und Pflichten.

Stattdessen pflegen viele die unausrottbare Utopie, daß Gleichheit und Freiheit zugleich „gehen“. Dabei hatte bereits Alexis de Tocqueville (1805 – 1859) die Gefährdungen der Freiheit erahnt: Die Freiheit erliege der Gleichheit, weil Freiheit mit Opfern erkauft werden müsse und weil Gleichheit ihre Genüsse von selbst darbiete, schreibt Tocqueville in seinem Buch „Die Demokratie in Amerika“ von 1835.

Wie gesagt: Wir brauchen eine Antenne für das Wechselspiel von Freiheit und Verantwortung, von Rechten und Pflichten.

Grundrechte sind keine Gratisware, sondern sie wollen immer wieder erarbeitet und erdient werden. Eigenverantwortung und Pflichtbewußtsein sind der Preis der Freiheit. Leider wissen immer weniger alte (!) und in der Folge junge Leute, was unser Gemeinwesen zum freiheitlichsten und wohlhabendsten gemacht hat, das wir je hatten.

Vergessen wir nicht: Es sind christlich-abendländische Werte, die die Bürger- und Menschenrechte, die auch das Grundgesetz konstituierten. Wir müssen diesen Hintergrund immer wieder hochhalten (quasi als unsere Rückbindung = „religio“)! Daß hier oft nicht mehr viel da ist, zeigt die Tatsache, daß allzu viele keine Ahnung mehr haben, warum Weihnachten oder Ostern gefeiert wird.

Die freien Gesellschaften, übrigens auch das Wirtschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft, leben schließlich selbst als säkularisierte Rechts- und Sozialstaaten von Werten und von einer Substanz, die die Trias Antike/Christentum/Judentum geschaffen hat.

Noch grundsätzlicher: Ortega y Gassets beschreibt den europäischen Wertekosmos so: „Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes, so würde sich herausstellen, daß das meiste nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen …; vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“ Europa ist also gewachsene Kultur, ist gewachsener Wertekosmos.

Der frühere griechische Staatspräsident Konstantinos Karamanlis (+1995) hat das europäische Gemeingut 1978 unnachahmlich so beschrieben: Europäische Kultur ist die Synthese des griechischen, römischen und christlichen Geistes. Zu dieser Synthese hat

– der griechische Geist die Idee der Freiheit, der Wahrheit und der Schönheit beigetragen;

– der römische Geist die Idee des Staates und des Rechts und

– das Christentum den Glauben und die Liebe.“

Man könnte auch sagen: Europäische Geistesgeschichte zeigt sich vor allem in einer mehrfachen Trias aus

  • Ratio, Libertas, Humanitas
  • geographisch verortet: Jerusalem, Athen, Rom.

Konstanten unseres gewachsenen „geistigen Besitzes“ als Europäer sind über das Genannte hinaus:

– das klassische Erbe (Logos statt Mythos, Recht),

– die Würde des Menschen (als Ausdruck der Gottesebenbildlichkeit des Menschen);

  • das Prinzip Verantwortung, entstanden aus der Verantwortung und der Verpflichtung zur Gewissenhaftigkeit gegenüber Gott;
  • das Gebot der Nächstenliebe (Solidarität);
  • das Prinzip der Subsidiarität (vgl. die Katholische Soziallehre);
  • die Familie als Hort der Liebe, der Geborgenheit und des Widerstandes gegen jeden Totalitarismus;

– vielfältige Formen der Machtkontrolle,

– eine demokratische Willensbildung.

  • und das Prinzip Arbeit als Lebensaufgabe.

Ich nenne diese Konstanten Gewißheiten – Gewißheiten, die ich unseren jungen Leuten mitgeben möchte. Ich nenne diese Gewissheiten gerne auch „europäische Leitkultur“. Zu diesen Gewissheiten gehört die Erkenntnis Dostojewskis: Ist Gott erst tot, ist alles erlaubt.

Eine solche Leitkultur brauchen wir in Zeiten einer um sich greifenden Kultur „light“. Wir brauchen Sie im Interesse der Zukunft Europa, die nicht von Schuldenschnitten oder Eurokrediten abhängt, sondern von Haltungen, Überzeugungen, Einstellungen, für die man eintritt und für die unsere jungen Leute eintreten sollen.

Josef Kraus, Oberstudiendirektor a.D. ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL).